Suppe für Russland

Es war in der Weihnachtszeit 1991, nur wenige Wochen nachdem ich meine Bundeswehr-Uniform nach über vier Jahren Dienstzeit an den Nagel gehängt hatte, als ich mit Kameraden am Stachus in München Suppe verkauft habe. ‚Suppe für Russland‘ habe ich gerufen und der Andrang war enorm. Es war ein nasskalter Tag, die Leute kamen von der Arbeit oder waren beim Einkaufen. Eine ordentliche Portion heiße Suppe für zwei oder drei Mark, ordentlich gekocht von unseren Feldköchen, die war schon geschätzt.

Die Deutsche Einheit war schon verwirklicht, gut zwei Jahre zuvor hatte ich als junger Unteroffizier den Fall der Mauer nahezu live im Fernsehen mitbekommen. Ich kann mich an die Ansprache unseres Kompaniechefs am Morgen darauf erinnern, es waren bewegende Zeiten. Ähnliche Zeiten wie heute, nur mit anderem Vorzeichen. Ich gehörte einer Truppe mit neuestem Gerät an, Pioniere mit Lehrauftrag. Anfang der 90er Jahre gab es die Panzer bereits, um die es in diesen Tagen geht. Wir hatten den TPZ Fuchs mit Spezialausrüstung, hatten Panzer zum Verlegen von Brücken, hatten Panzer zum Räumen von schwerem Gerät. Auch Minenwerfer gegen die Armeen des Warschauer Pakts, deren Einsatzgebiet wäre nahe der damaligen tschechoslowakischen Grenze gewesen. Tatsächlich gebraucht wurde diese Technik dann aber 1991 von den Briten im Krieg gegen Saddam Hussein, der Kuweit überfallen hatte. Es war die Zeit als die Bundeswehr noch etwa 500000 Mann groß war und die Panzertruppe mit etwa 2000 Leopard-2 einsatzfähig war. Der Abzug der Roten Armee aus der ehemaligen DDR zog sich noch Jahre hin, aber es gab keinen Zweifel, dass ein Zeitalter des Friedens aufziehen würde.

Besonders ein Mann machte den Unterschied zwischen der Zeit des Kalten Krieges, der Bedrohung mit SS-20, Nachrüstung mit heftigen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen innerhalb der bundesrepublikanischen Gesellschaft noch in den frühen 80er Jahren. Mit Michail S. Gorbatschow wurde 1985 erstmals ein Mensch zum Führer der Sowjetunion, der Hoffnung machte. Deren System konnte aber nicht ohne totalitären Machtanspruch überleben, das Imperium zerbrach, der Kommunismus hatte kein belastbares Fundament legen können. In keinem der Länder. Zum Showdown kam es im August 1991 als hohe reaktionäre sowjetische Funktionäre Gorbatschow absetzen wollten. Drei Tage war ungewiss wer in Moskau das Sagen hat und nur knapp und mit großem Machtverlust konnte Gorbatschow sich behaupten.

Ich weiß nicht mehr, wie verständlich mir die damaligen Vorgänge bereits waren. Aber es war absolut klar, dass wir ‚Gorbi‘ liebten und ihn unterstützten. Wie es dazu kam, dass die Bundeswehr in München eine Sammelaktion für ihn und seine Politik durchführte, kann ich nicht sagen. Aber ich war mit dabei.

Es hat Spaß gemacht mit den Kameraden nochmal was zu unternehmen. Gerade so in aller Öffentlichkeit, ich kann mich noch an zwei Begegnungen erinnern. Zum einen die alte Frau, der schon viele Zähne fehlten. Sie konnte die drei Mark nicht ganz zusammen bekommen und natürlich gab ich ihr die volle Schüssel und dazu noch Nachschlag. Das war einer der wenigen Momente in meinem Leben, bei der mit echte Armut begegnete. In Bergkirchen gab es in meiner Kindheit zwar auch alte Leute, die einfach und offensichtlich mit wenig Geld bedacht waren. Aber sie hatten ein Zuhause, waren in ihrer Welt gut aufgehoben. In München war das eher hart.

‚Suppe für Russland‘ hat es geheißen. Ich konnte noch nicht unterscheiden, was es da an neuen Ländern gab. Ich war erstaunt, dass mir jemand erklärte, Kiew etwa wäre gar nicht in Russland. Die Ukraine kannte ich bis dahin nur vom Strategie-Spiel namens ‚Risiko‘. Und im Spiel ‚Europareise‘ gab es eben nur diese große UdSSR am östlichen Ende der Europakarte.

Was man damals wohl mit dem gesammelten Geld gemacht hat? Vermutlich gab es die Notwendigkeit die Menschen in den GUS-Staaten, also Russland und den vielen neuen Ländern, sozial zu unterstützen. Die wirtschaftliche Not damals hat ihren Nachhall bis heute.

Was wir damals gemacht hatten, war von Sympathie und von Hoffnung auf eine gute Zukunft getragen!

Michail S. Gorbatschow, ruhe in Frieden! Möge es in Zukunft wieder Politiker aus Russland geben, die ihr Leben den Menschen widmen.

Stefan Haas, am 31.August 2022