Brücke ins Nirwana – Sprachlose ukrainische Jugendliche 12. April 202412. April 2024 Im Frühjahr 2022 haben wir in Bergkirchen die ersten Geflüchteten aus der Ukraine begrüßt. Wir hatten Glück, es war einer der ersten Tage, an denen man sich in der Sonne gut wärmen konnte. Draußen konnten wir den ausgehenden Restriktionen der Pandemie gut entgehen. Die aufgestellten Tische im Pfarrhof waren voll besetzt, gut gemischt mit Ukrainern und Bergkirchner Bürger:innen. Der Bürgermeister Axtner sprach, Pfarrer Hack, und ich selbst hatte auch die Ehre. Es war mir wichtig, meine Erfahrung aus den Jahren der Flüchtlingsarbeit haben Anerkennung und meine Rede kam an. ‚Wir werden zusammen lachen, wir werden zusammen weinen.‘ Unsere Reden wurden damals simultan übersetzt. Danach habe ich zum ersten Mal mit ukrainischen Geflüchteten selbst gesprochen. Nadja konnte mit Sicherheit viel besser Englisch als ich. Sie stellte mir ihre Kinder Zachar (damals 13) und Ulijana (damals 3) vor. Zachar habe ich nie sprechen hören, aber ich habe berichtet bekommen, dass er sich in der Schule dennoch gut macht. Ulijana konnte immer irgendwo in den Kindergarten gehen und kann nun freilich sehr gut Deutsch. Zuhause im Kreis der Familie spricht sie es nicht, obwohl die Eltern das schon gerne probieren wollen. Kinder sind eben auch mal bockig, es gibt sicherlich Gründe dafür. Das sind keine großen Sorgen, hier sind gebildete Eltern mit dabei. Die ersten Monate 2022 waren geprägt davon, dass alle helfen wollten. Eigentlich war die Zeit der Improvisation die inspirierendste. Man war auch in den Schulen sehr flexibel, hat Ehrenamtliche in den Unterricht genommen, hat ehrenamtlich übersetzt. Selbst die Behörden haben die sprachliche Barriere beseitigt. Ich wunderte mich was alles möglich ist. Bis heute. Bis heute habe ich besten Kontakt zu einer Familie. Ein gutes Jahr hatte die Mutter mit drei Teenagern eine unglaubliche Betreuung im Haus zweier lieber Menschen aus meiner Nachbarschaft. Sie lernten dort so gut es ging unsere, für Ukrainer nicht so einfache Sprache. Die Kinder gingen in die Schule, die Mädchen in die Regelschule. Die ältere hat mittlerweile beste Aussicht auf Studienbeginn Anfang 2025 an der LMU. Anfang 2023 kam der Vater nach Deutschland, die Familie zog im April 2023 nach Dachau um. In der Unterkunft wohnen hauptsächlich ukrainische Landsleute. Der Junge, Roman (14), hat dort viele Freunde gefunden, und es war toll, dass er diese zu unseren Sportevents mitbrachte. Das ist weiter eine tolle Geschichte, bei der wir uns in abwechselnder Aufstellung mehrmals im Monat treffen. Nun sind es drei Familien, bei denen die Väter, Söhne und Töchter zum Volleyball nach Bergkirchen kommen. Im Sommer 2023 haben wir auch einige Male Fußball gespielt. Die Jungs sprachen meist kein Wort Deutsch. Sie kamen erst im Frühling 2023 nach Deutschland. Aber es bessert sich nicht. Selbst bei Roman habe ich festgestellt, dass er zwar versteht was ich sage, er aber nur wenig Worte findet, um zu antworten. Er geht nun in eine Brückenklasse. Wenn ich frage, was er da macht, lacht er. Seine Zwillingsschwester geht in die Mittelschule. Sie kann von ihren guten Noten erzählen, je nach Laune auch sehr viel. Es macht ihr Spaß Deutsch zu sprechen, gerade wenn man neue Worte deuten muss. Wie können ukrainische Jugendliche so unterschiedliche Wege nehmen, das staatliche Bildungsangebot ist doch für alle gleich. Und es muss doch auffallen, dass ein Teil der Jugendlichen gar nicht ins Bildungssystem findet und ein Teil abgehängt wird. Es sind Menschen, die in kurzer Zeit in Ausbildung gehen werden. Oder eben nicht. Ende 2023 habe ich eine Lehrerin gefunden, die in Dachau eine Brückenklasse unterrichtet. Wir hatten schon mal Kontakt und sie hat meine Anfrage zum Thema gelesen. Ich habe sie besucht und mir zu unserem etwa zwei Stunden langem Gespräch Notizen gemacht. Sie sagt ein Kind von dreien in ukrainischen Brückenklassen schafft es, die sprachlichen Lernziele zu erreichen. Sie sagt auch, dass die Schüler:innen in gemischten Sprachklassen, in denen 30 bis 45 Stunden die Woche gelernt wird, nach einem halben Jahr den Durchbruch schaffen. Brückenklassen werden wohl ab 19 Leuten für eine Klasse gebildet. Es soll Tage geben, da kommen nur sieben Schüler:innen zum Unterricht. Notiert habe ich mir 20 Stunden in der Woche. Es ist sicher gut gemeint, dass man den ukrainischen Jugendlichen einen schulischen Rückzugsort gönnt, an dem sie sich keinen Stress ausgesetzt fühlen und leicht mit anderen Kontakt aufnehmen können. Eben in ihrer Heimatsprache. Es ist auch nicht klar, wie Unterricht und Noten wahrzunehmen sind. Hat ein Zeugnis eine Aussagekraft? Macht es Sinn sich anzustrengen? Es heißt, die Kids werden mit der Zeit problematischer und wilder. Im Kollegium gibt es auch ukrainische Lehrkräfte oder Aushilfslehrkräfte und Spannungen über die fachlich beste Unterrichtsmethode. ‚Deutsch als Zweitsprache‘ hat pädagogisch wichtige Aspekte, die man nicht umsonst entwickelt hat. Das grundsätzliche Problem ist freilich, dass zu wenig Stunden angesetzt werden und die Lehrkräfte nicht ausreichend zur Verfügung stehen. Statt über den Berg zu kommen, vollbringen Kinder wie Lehrer eine Sisyphos-Arbeit. Der schwere Stein rollt immer wieder den Abhang hinunter. Für Roman und viele seiner Freunde heißt das die Brückenklasse zu wiederholen. Er spielt übrigens gerne Playstation, nimmt andere Angebote an, um sich nicht zu langweilen. Es bleiben viele der Jugendlichen ohne Jahreszeugnis, werden ohne Schulabschluss bleiben. Sie stecken zwischen zwei Welten, die eigentlich gut miteinander könnten. So die Erfahrung der ersten Monate. Natürlich haben viele ein Trauma. Ich sehe das gerade plastisch an einem der Jungs vom Volleyball. Dass er sich bei uns ganz wohlfühlt und Freude hat, sollte kein Ersatz für psychologische Begleitung sein. Auch das könnte Schule in Deutschland leisten. Im Gespräch war meine Frage, wer denn nun die Verantwortung trägt. Schulamt, Schulrat, BLV und letztlich Kultusministerium wurden genannt. Alle würden immer wieder informiert. Auf meine Frage, warum dann nicht gehandelt wird, kommen Zitate wie ‚die gehören nicht hierher‘. Es wäre egal, ob es die jungen Menschen schaffen oder nicht und die billige, aber scheinwahrende Lösung wäre gut genug. Statt zu motivieren, werden junge Menschen dazu erzogen aufzugeben. Es werden bürokratische Winkelzüge angewandt, die Menschen nach der Herkunft, nach dem Pass, einzuteilen und abzugrenzen. Ein Miteinander zwischen Lehrer:innen vor Ort und den Behörden ist ausgeschlossen. Für die Erstellung der Zeugnisse wären fünf Formulare nötig, es fallen die Formulierungen ‚irrsinnig‘, ‚dilettantisch vorbereitet‘. Daraus werden dann in kürzester Frist Schullaufbahnempfehlungen abgeleitet, ohne jeden Qualitätsanspruch, ohne fachliche Grundlagen, willkürlich. Selbst im guten Falle, wo man als Lehrkraft merkt, das Kind könnte auf eine höhere Schule gehen, wird die Mittelschule nahegelegt. Weil am billigsten. Völlig irrsinnig, das steht mehrfach in meinen Notizen. Es fehlt an allen Ecken und Enden an Pragmatismus. Auf grundsätzlicher Ebene müssen ukrainische und deutsche oder gar bayrische Schulausbildung anschlussfähig sein. Wenn man es ernst meint, die Ukraine in die EU aufzunehmen, wäre das nun genau ein Thema, das man jetzt und heute angehen kann und muss. Auf der einen Seite lässt man die Jugendlichen in Sachen Spracherwerb hängen, auf der anderen fordert das Jobcenter für einfache Arbeiten auch gerne mal Niveau C1. Gut, wen interessiert das außer mir? Meine Anfrage bei den Grünen wurde im PISA-Medien-Trubel gar nicht richtig wahrgenommen. Gut, auch die Leute in den Büros unserer Landtagsabgeordneten stehen oft im Feuer. Was muss erreicht werden? Denn mit Menschen, die keine Ausbildung finden, die ihren Platz in Europa nicht finden können, die ihre Traumata nicht ausgleichen können, werden wir nicht viel Glück haben.Was ist schwer daran eine ehrliche Bestandsaufnahme zu machen? Das wünsche ich mir und das ist auch die Arbeit, die gemacht werden muss. Hier also mein Anstoß. Danke an alle, die mit dabei sind. Es ist schon wohlüberlegt, dass ich hier in meiner Rolle als Gemeinderat und als Ortsverbandssprecher der Grünen Bergkirchen schreibe. Die Menschen, die vor Krieg und Terror und barbarischer Unmenschlichkeit zu uns geflüchtet sind, werden uns immer verbunden bleiben. Unsere Chance ist es, dass wir zusammen mit ihnen die Zukunft gestalten können. Wir sind darauf angewiesen, dass wir uns in Europa gegen Diktatoren und neue Herrenmenschen wehren können. Unser Bildungssystem sollte ein Bollwerk sein, dass wir ausbauen und stärken. Stefan Haas im April 2024