Stunden in Dachau

Zu einem Gedenkgottesdienst für Wolfgang Niederstraßer sind wir geladen, in der Evangelischen Versöhnungskirche in der KZ-Gedenkstätte Dachau, am Sonntag, den 26.Juni 2022. Bisher kenne ich die Kirche nur aus einer Videoübertragung, damals zum Gedenken an Sophie Scholl. Oft war ich in meinem Leben nicht in der Gedenkstätte, auch nicht in meiner Schulzeit in den 80er Jahren am nahen Josef-Effner-Gymnasium. Der Vater eines Schulkameraden hat uns Burschen damals dann doch einmal mitgenommen, erinnern kann ich mich kaum daran. Trotzdem hat die räumliche Nähe dieses schrecklichen Ortes mich von Kindheit an begleitet, ein Teil meiner Heimat, in dessen Geschichte ich über meine Familie hineingeboren bin.

Lukas Drexler von der Grünen Jugend kommt mit, auch Lexi Heissler nimmt mehr als nur seine Rolle als Kreissprecher ein. Wirklich Bescheid über Wolfgang Niederstraßer wissen wir nicht, eben ein paar Informationen aus der Ankündigung und ein paar Sätze aus Wikipedia. Beim Gang über das Gelände denke ich an die Lagerappelle die bis April 1945 bei jedem Wetter stattfanden. Heute ist es sehr sonnig. Der kalte Betonbau der Kirche bietet Kühle, der vorgelagerte Platz unter freiem Himmel, ebenfalls schattige Plätze. Reservierte Stühle haben wir freilich keine, es sind Angehörige eingeladen, mit dem Herzog Max in Bayern auch jemand, der das Konzentrationslager noch als Kind in Sippenhaft überlebt hat. Neben Pfarrer Mensing übernehmen weitere Rednerinnen und Redner ihren Teil, darunter auch der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Landesbischof Dr. Heinrich BedfordStrohm. Und uns noch mehr bekannt, Claudia Roth, Staatsministerin beim Bundeskanzler sowie Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien.

Der Gottesdienst ist sehr würdig, wir halten die Texte der Lieder und Psalmen in den Händen. Wir sind wieder in Zeiten, in denen man aus dem Alten Testament zitiert. Der russische Angriffs- und Vernichtungskrieg heute entfesselt die Bestie der Menschheit von neuem. Es ist bitter, dass die bösen Geister, die man eigentlich in der Vergangenheit wähnt, in neuen Gewändern auferstanden sind. Von den Führern, die ganz oben stehen, bis zu den Schergen, die eifrig nach ihren Talenten Befehle vollstrecken. Vom Schreibtischtäter bis zum gemein mordenden Soldaten. Alle finden ihre Rollen, auch diejenigen die schweigen oder gar der Propaganda zujubeln. Und es finden sich welche die aufbegehren, die Missstände aussprechen, Unmenschlichkeit verdammen, die Lügen aufdecken. Ich lese den Namen Bonhoeffer und erinnere mich. Über Wolfgang Niederstraßer höre ich, auch über die damalige Kirche, deren oberste Vertreter sich nach dem Krieg als Widerständler feiern lassen wollten. So ganz richtig wäre das wohl nicht gewesen. Mir kommt das Bild des Patriarchen der heutigen Russisch-Orthodoxen Kirche in den Sinn. Auch der predigt heute für Krieg und für Putin. Wie sehr sich Christen in Russland noch an die eigentliche Botschaft erinnern? Zumindest Ioann Burdin tut dies. Widerstand und Mut zeigen auch Wang Yi in China und Volha Zalatan in Belarus. Ich weiß gerade nicht, ob das tröstend ist. Es wird nicht reichen, diese aufrechten Menschen zu loben, man muss sich neben sie stellen. Claudia Roth fragt in ihrer Rede im Anschluss an die kirchliche Feier, ob wir diesen Mut haben. Auch wir sind in unserer Freiheit und Demokratie bedroht, und eben nicht von heute auf morgen.

Renate Zauscher berichtet in der SZ ausführlich über die Redebeiträge:
https://www.sueddeutsche.de/muenchen/dachau/dachau-kz-pfarrer-widerstand-bedford-strohm-1.5610250

Es gibt nun eine Art Empfang, ein wenig zu trinken und einen kleinen Snack. Lukas spricht mit Marese Hoffmann über seine Erfahrungen als Krankenpfleger in der Helios Klinik. Dieter Stoll verabschiedet sich nach kurzer Unterhaltung wieder. Roderich Zauscher spricht Claudia Roth auf so manche Ereignisse mit den Grünen aus Dachau von vor 25 Jahren an. Einfach ist es nicht die Aufmerksamkeit einer so begehrten Gesprächspartnerin zu bekommen. Sie ist aber wirklich eine herzliche Frau, lächelt freundlich und verständnisvoll. Und Trotz aller Termine, sie muss am Abend noch nach Berlin, den Finanzminister in einer strittigen Angelegenheit sprechen, finden sich weitere verbindende Augenblicke.

Claudia mit leicht nervösem Lukas von der Grünen Jugend Dachau

Nun sage ich Servus, aber deutlich zu früh. Denn den Weg zur Kranzniederlegung können wir ja auch noch mitgehen, in deutlich überschaubarer Runde. Auch Richard Seidl hat hier einen Auftrag, als Stadtrat ist die Gedenkstätte auch in seiner Verantwortung und hat Redebedarf mit der Staatsministerin. Der Zeremonie halten wir uns fern bzw. Lukas hält derweil staatstragend die Tasche der Ministerin.

Die Spannung lässt nun nach, wir reden noch einige Minuten mit guter Laune. Allerdings schaudert mich dieses Mahnmal wieder. Wie es wohl den Touristen geht, die während der ganzen Zeit irgendwie mit dabei sind. Lernt die Welt da draußen etwas von den Lehren der Vergangenheit?

Die heiße Sonne macht müde, die Tore zum Alltag, den kommenden Aufgaben, sind schon wieder durchschritten. Ich denke mir ‚Gute Nacht‘ und sage es dann tatsächlich noch. Leise. Lukas nimmt den Bus, ich das Fahrrad. Wir sind auch noch Menschen unserer Zeit.

Stefan Haas, 3.Juli 2022


Weitere Veröffentlichungen:
https://www.wiesentbote.de/2022/06/25/gedenk-gottesdienst-wuerdigt-pfarrer-wolfgang-niederstrasser-aus-warmensteinach/